Ich weiß nicht, wann ich das erste Mal über die Wikipedia gestolpert bin. Es muss so die Zeit vor 18 oder 19 Jahren gewesen sein, die Enzyklopädie war noch am Anfang, aber man konnte das Potential schon ahnen. Damals fand ich Freie Software sehr spannend und auch die Debatten darüber, inwiefern diese Software-spezifischen Entwicklungsmodelle auf andere Bereiche übersetzt werden könnten.
Gleichzeitig war es schwer, Nicht-Techies die Open-Source-Prinzipien und Community-Mechanismen anhand von Softwareentwicklung zu erklären. Die Wikipedia veränderte alles, vor allem als sie populärer wurde. Endlich gab es ein einfacheres Beispiel für die Beschreibung von Kooperation und dem Zugang zu Wissen. Und es funktionierte: das Wissen der Welt gemeinsam zu sammeln. In einem Wiki, das damals ein interessantes neues Werkzeug zur Zusammenarbeit darstellte.
Die Nullerjahre hindurch wurde die Wikipedia-Community für ihre Mission und ihr Engagement noch häufig von denen ausgelacht, die noch darauf hofften, dass das mit der Digitalisierung bald wieder verschwinden würde. Gemeinsam Wissen teilen, ehrenamtlich Artikel zu den nischigsten Themen schreiben, die man sich vorstellen kann – das könne doch nicht funktionieren. Wer komme denn auf so eine dämliche Idee und vor allem: Wer glaubt denn an eine solche verrückte Utopie?
Aber da war schon klar, dass das Modell zukunftsweisender war als das jährliche Drucken enzyklopädischen Wissens in lange Bücherreihen, die dann schon nicht mehr aktuell waren, wenn sie als Deko im Regal verstaubten.
Das größte Erfolgsmodell des gemeinwohlorientierten Netzes
Die 20 Jahre lange Geschichte hat gezeigt, dass die Wikipedia eines der größten Erfolgsmodelle des Netzes ist, wenn nicht sogar das größte des gemeinwohlorientierten Teils des Netzes. Kinder wachsen heute mit der Selbstverständlichkeit auf, dass Wissen geteilt werden kann und sollte. Wie toll ist das denn?!
Aber natürlich ist die Wikipedia nicht perfekt, sie ist ein ständiger Prozess. Es gibt viele Punkte, die noch nicht fertig sind oder wo es Verbesserungen braucht. Die Wikipedia wird immer noch mehrheitlich von Männern geschrieben, dieser Bias macht sich häufig bemerkbar. Über die Jahre hat sich ein riesiges Regelwerk etabliert, was in den meisten Fällen sicher notwendig ist für eine offene Kollaboration. Aber ist das Regelwerk auch Einsteiger:innenfreundlich genug, um mehr Menschen zum Mitmachen zu motivieren oder geht das auch einfacher? Denn Neueinsteiger:innen werden in jeder Community gebraucht, um frischen Wind und Motivation reinzubringen.
Überhaupt Mitmachen! Die Wikipedia ist nicht nur die fleißige Community, die ehrenamtlich in ihrer Freizeit Artikel schreibt, verbessert, korrigiert, ausmistet und miteinander diskutiert. Die Wikipedia sind auch Du und ich, wenn wir sie nutzen, sie lesen und sie verlinken. Warum nicht heute und zukünftig mal etwas Zeit und einen Artikel oder die Verbesserung von Artikeln schenken.
Machen wir sie doch gemeinsam besser! Happy birthday, Wikipedia, bleib weiter offen und frei. Und danke an die großartige Community dahinter, Ihr seid Held:innen!
Anlässlich des Geburtstages haben Leonhard Dobusch und ich über unsere langjährige Begleitung der Wikipedia gesprochen, wir reflektieren das, was dort entstanden ist, reden auch über die Tabus der Community und schauen auf die kommenden Jahre und ihre Herausforderungen.
Hier ist die MP3 und hier eine OGG.
(Bei meiner Tonspur gab es am Anfang ein Problem, ab ca. Minute acht klingt alles dann so wie geplant.)
Unsere Wünsche zum Geburtstag
Wir haben dafür auch einige spezifische Wünsche an andere Adressat:innen als die Wikipedia-Community:
- Mit öffentlichen Gelder finanzierte Inhalte sollten selbstverständlich auch öffentliches Gut werden. Public money, public code!
- Mehr öffentlich-rechtliche Inhalte unter einer Wikipedia-kompatiblen freien Lizenz!
- Mehr Schul-AGs, die die Wikipedia vermitteln! (Ja, dafür bräuchte es natürlich Digitalisierung an Schulen…)
- Und wir brauchen eine bessere Akzeptanz und Förderung des digitalen Ehrenamtes in unserer Gesellschaft!
Wir haben auch ein Video dabei gemacht:
NPP ist der Podcast von netzpolitik.org. Abonniert unser Audio-Angebot, etwa bei iTunes oder Spotify oder ladet diese Folge herunter im Format MP3 oder OGG. Alle unsere Podcasts findet ihr unter: https://netzpolitik.org/podcast/. Wie immer freuen wir uns über Kommentare, Wünsche, Ergänzungen und Verbesserungsvorschläge.
Ich bin auch ein großer Fan und häufiger Nutzer von Wikipedia. (Vor allem auch der „Zufall“-Funktion, bei der einem zufällig ausgewählte Artikel angezeigt werden. Fantastisch, um den eigenen Horizont zu erweitern, neue und bislang völlig undenkbare Kuriositäten zu entdecken oder einfach nur einen verregneten Sonntag Nachmittag zu verdaddeln.)
Die Qualitätssicherung der Wikipedia habt Ihr im Podcast aber vielleicht etwas zu positiv dargestellt. Der britische Guardian berichtete ja gerade erst im August 2020, dass ca. die Hälfte (!) aller knapp 42.000 Wikipedia Einträge in der Sprache Scots von einem Teenager aus den USA geschrieben oder geändert wurden, der selbst überhaupt kein Scots spricht. Als Folge wurde die Scots Wikipedia streckenweise als Beleg dafür angeführt, dass Scots überhaupt keine richtige Sprache mit festen Regeln sei. Insgesamt sank die Qualität der Scots Wikipedia auf ein solch tiefes Niveau, dass mittlerweile überlegt wird, ob die gesamte Scots Wikipedia gelöscht und neu begonnen werden muss. Guardian Artikel hier: https://www.theguardian.com/uk-news/2020/aug/26/shock-an-aw-us-teenager-wrote-huge-slice-of-scots-wikipedia
Natürlich kann man nun fragen, ob eine Wikipedia in einem Dialekt, der nur in einem Teil Schottlands zu finden ist und gerade mal von ca. 1,5 Mio. Menschen gesprochen wird, eine wichtige Informationsquelle darstellt. Allerdings legt diese Geschichte auch eine grundlegende Schwäche von Wikipedia dar: Je länger man als Autor registriert ist und je aktiver man dort ist, desto mehr Rechte bekommt man eingeräumt – und zwar völlig unabhängig von Sachkenntnis oder formaler Qualifikation. Dadurch wurde der US-Teenager schon bald befähigt, selbst Beiträge von Wikipedia-Nutzern abzuweisen, die nur sein offensichtlich falsches Scots korrigieren wollten. Am Ende war der US-Teenager (der übrigens wohl in guter Absicht handelte) anscheinend derart mächtig, dass ein anderer Nutzer (mit Scots Kenntnissen) beschloss, außerhalb von Wikipedia auf Reddit Alarm zu schlagen und die Minderwertigkeit der Scots Wikipedia publik zu machen.